Wenn der Biss zur Belastung wird
Thomas R., 47 Jahre alt, kam auf Empfehlung seines Zahnarztes zu mir ins Labor. Die Ausgangssituation war ungewöhnlich, aber keineswegs selten: Der Patient konnte seit Monaten nicht mehr richtig zubeißen – aus Angst vor Schmerz.
Die Beschwerden hatten schleichend begonnen: Druckgefühl im Kiefer, Verspannungen, gelegentliches Knacken – dann kamen Schmerzen beim Kauen hinzu. Die bisherigen Untersuchungen brachten keine eindeutige Ursache. Zahnbefunde, Röntgenbilder, CMD-Schienen – alles wurde probiert, doch nichts führte zur nachhaltigen Besserung. Irgendwann entwickelte Thomas ein regelrechtes Vermeidungsverhalten. Er biss nicht mehr zu – weder beim Essen noch im Ruhezustand.
Der Patient ist gesund – und leidet trotzdem
Solche Fälle sind komplex. Die klinischen Befunde sind unauffällig, aber der Leidensdruck ist enorm. Oft liegt es an Hyperbalance-Kontakten, Überbelastungen oder Vermeidungsmustern in der Bewegung, gekoppelt mit muskulären Dysbalancen und einem gestörten Funktionsmuster.
Der Zahnarzt erkannte, dass hier kein Standardfall vorlag und zog mich als funktionell spezialisierten Zahntechniker hinzu, um gemeinsam neue Wege zu gehen.
Der erste Schritt: Zuhören und ernst nehmen
In der persönlichen Fallbesprechung nahm ich mir bewusst Zeit, Thomas’ Geschichte vollständig zu erfassen – fernab von Zeitdruck und Normwerten. Allein das Zuhören, die ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Situation, löste bei ihm spürbare Erleichterung aus. Endlich fühlte er sich verstanden.
Wir vereinbarten eine strukturierte funktionelle Diagnostik nach dem Konzept von Prof. R. Slavicek. Ziel war es, nicht nur das „Was“, sondern vor allem das „Warum“ der Beschwerden zu verstehen.
Die funktionelle Analyse: ein sensibles System in Schieflage
Die instrumentelle Funktionsanalyse und Axiografie zeigten schnell: Die habituelle Bisslage wich deutlich von der zentrischen Kondylenposition ab. Der Kaumuskelapparat war überlastet, die Gelenkposition instabil, die Koordination gestört. Kurz gesagt: Das System war aus dem Gleichgewicht und reagierte mit Schmerz und Schutzverhalten.
Die Lösung: Ein sanfter Weg zurück zur Funktion
Gemeinsam mit dem Zahnarzt entwickelten wir einen individuellen funktionellen Fahrplan. Zunächst wurde ein Fernröntgenseitenbild (FRS) erstellt, ausgewertet und die Parameter in eine therapeutische Positionierungsschiene übernommen und in mehreren Sitzungen feinjustiert.
Bereits nach wenigen Tagen spürte Thomas eine erste Entlastung. Nach drei Wochen begann er wieder, vorsichtig zu kauen – ohne Angst. Über gezielte, kleine Schritte fand er langsam Vertrauen in seine eigene Bissfunktion zurück.
Ergebnis: Stabilität – und Zuversicht
Nach rund zehn Wochen konnte Thomas wieder normal essen, sprechen und lachen. Die Angst vor dem Zubeißen wich dem Gefühl von Kontrolle und Sicherheit. Sein Zahnarzt konnte auf dieser Basis eine prothetische Feinanpassung vornehmen – jetzt mit funktioneller Stabilität im Rücken.
Funktionstherapie schafft Vertrauen, wo andere Wege enden
In Fällen wie diesen braucht es mehr als Technik – es braucht Struktur, Erfahrung und ein tiefes Verständnis für die funktionellen und psychischen Wechselwirkungen. Als Spezialist für funktionstherapeutische Zahntechnik sehe ich meine Aufgabe genau darin: Patienten zurück in ihre Funktion zu begleiten – mit Geduld, Präzision und echtem Engagement.
Michael Tandetzki
Zahntechnikermeister & Akademischer Fachmann für Funktionstherapien